Regenwald Report 01/2020 · Titelthema: Das Verschwinden der Arten
Das Verschwinden der Arten ist die Krise des Jahrhunderts
Das größte Aussterben seit 66 Millionen Jahren wird auch den Menschen treffen. Noch könnten wir gegensteuern, müssten uns dafür aber fundamental ändern. Von Matthias Glaubrecht.
Wir Menschen sind die Eintagsfliege der Evolution, ein vergleichsweise junger Neuzugang in der Erdgeschichte. Seit wenigstens 550 Millionen Jahren gibt es die fossile Überlieferung des Lebens, vor 15 Millionen Jahren entstanden die ersten Ahnen der Menschenaffen. Wir selbst, Homo sapiens, sind vor 300 000 Jahren in Afrika entstanden. Vor etwa 70 000 Jahren haben wir unseren Heimatkontinent verlassen, in kürzester Zeit einen Großteil der Erde besiedelt – und uns inzwischen zum größten Raubtier und gefährlichsten Plünderer des Planeten entwickelt. Wo immer wir hinkamen, haben wir die Fauna und Flora massiv verändert, haben dabei vor allem in Australien und auf dem amerikanischen Doppelkontinent sogar die größten jemals in der Erdneuzeit lebenden Säugetiere und Vögel – darunter Mammut, Mastodon und Moa – ausgelöscht.
Wir dominieren zwei Drittel der Landoberfläche der Erde. Wir nutzen sie für unsere Siedlungen, Industrieanlagen und Verkehrswege, vor allem aber für landwirtschaftliche Nutzflächen, um Nahrungsmittel oder Energiepflanzen anzubauen. Und für unsere Nutztiere. Wir überfordern dabei unsere Umwelt, an Land wie zu Wasser. Und weil wir überall auf der Erde ihre Lebensräume zerstören, ist das Überleben vieler Tier- und Pflanzenarten gefährdet.
Plastik, Beton und Plutonium
Das Ausmaß, in dem dies geschieht, berechtigt dazu, von einem ganz neuen Erdzeitalter zu sprechen – dem Anthropozän. Der Mensch hinterlässt eine Vielzahl auch geologisch markanter Signaturen, darunter Unmengen an Baustoffen wie Beton, Zement und Ziegel, aber auch Aluminium, Plastik und Geräte.
Als weitere Signatur verursacht der Mensch nun eines der größten Artensterben. Zwar gab es Massensterben bisher bereits fünf Mal in der Erdgeschichte. Auch diesmal sind Schwund und Sterben von globalem Ausmaß, jedoch passiert es auf einem dicht von Menschen besiedelten Planeten. Gegenwärtig verlieren wir überall auf der Erde auf dramatische Weise Biodiversität – von der genetischen Zusammensetzung einzelner Populationen über die Vielfalt der Organismenarten bis hin zu den Lebensgemeinschaften ganzer Ökosysteme.
Bald werden in der Natur die großen charismatischen Tierarten wie etwa Tiger und Löwe, Leopard und Jaguar, Elefanten und Nashörner ausgestorben sein. Längst sind in Afrika und Asien etwa die Bestände der Großkatzen ebenso wie die der imposanten Großsäuger zusammengebrochen. Doch längst geht es nicht mehr nur um die sogenannten „Flaggschiffarten“ des Naturschutzes, sondern um das Verschwinden einer Vielzahl von Spezies. Aber selbst, wenn noch nicht die letzten Exemplare wirklich verschwunden sind, ist der Schwund dramatisch, weil die genetische Vielfalt dadurch massiv zurückgeht.
Es geschieht unmittelbar vor der eigenen Haustür, im eigenen Garten und in unserer Kulturlandschaft, wo massenhaft Vögel und Insekten verloren gehen. In Deutschland sind davon nachweislich drei Viertel aller Fluginsekten betroffen. Diese aber sind Nahrung etwa der Vögel. In Europa verschwanden deshalb in den letzten vier Jahrzehnten allein 300 Millionen Acker- und Wiesenvögel.
Ebenso betroffen vom allgemeinen Artenschwund sind Forste, die längst keine natürlichen Wälder mehr sind, aber auch Flüsse, die wir begradigen, eindeichen und durch Wehre und Staustufen verbauen. So haben wir Lachs, Stör und Stint verloren und mit ihnen zahllose andere Fische. Oder nehmen wir die Böden, die wir überdüngen und deren Organismen wir vergiften. Durch all dies ist das Artensterben allgegenwärtig geworden.
Verschwundene Wälder, leere Wälder
An vorderster Front steht der Verlust an Wäldern weltweit. Rund um den Globus haben wir im vergangenen halben Jahrhundert etwa die Hälfte der Waldökosysteme verloren. Landnutzungsänderung heißt es euphemistisch, wenn etwa in Brasilien oder Indonesien Wald im ganz großen Stil landwirtschaftlicher Nutz-
fläche weicht.
Selbst da, wo noch Reste ursprünglicher Wälder erhalten sind oder von Menschenhand geschaffene sekundäre Wälder wieder aufwachsen, sind vor allem durch Jagd und Wilderei die Bestände größerer Wildtiere und Vögel verschwunden. „Empty forest“ heißt dieses erschreckende Phänomen.
Die wahre Krise des 21. Jahrhunderts
Gegenwärtig ist der menschengemachte Klimawandel in aller Munde. Doch das darf nicht vom Artensterben – oder besser: von der Notwendigkeit, die Artenvielfalt zu erhalten – ablenken. Denn auch ohne Klimawandel ist der vom Menschen verursachte massenhafte Exitus von Tieren und Pflanzen für sich eines der drängendsten Probleme der Menschheit.
Es ist die wahre Krise des 21. Jahrhunderts! Der anthropogene Klimawandel verstärkt das Artensterben noch zusätzlich, wobei immer deutlicher wird, wie eng die Biosphäre mit der Geosphäre verknüpft ist. Ohne den einzigartigen biologischen Schatz der Artenvielfalt funktionieren die Ökosysteme der Erde nicht, auf die wir alle angewiesen sind. Auf ihnen basiert unsere Ernährung, angefangen von sauberem Wasser und gesunden Böden bis hin zu den unentgeltlichen Bestäuber-Dienstleistungen der Insekten, die so für Kaffee und Kakao, Äpfel, Birnen, Tomaten und viele andere Nahrungsmittel sorgen.
Dass die Biomasse an Insekten dramatisch eingebrochen ist, weist darauf hin, dass die industrialisierte Landwirtschaft einschließlich der dabei weltweit eingesetzten Gifte, dass insgesamt unsere Art und Weise der Landnutzung der ursächliche Grund und Auslöser des allgemeinen Artenschwundes ist.
Deshalb ist der Erhalt der Arten und funktionierender natürlicher Ökosysteme für die Ernährung der Menschheit ein zentrales Zukunftsthema – und eben nicht nur die Frage von Energie und Mobilität. Im Zweifel aber verstellt die derzeitige einseitige Debatte um das Klima noch den Blick auf die biologischen Realitäten des Artensterbens.
Wenn wir jedoch weiterhin sämtliche Lebensräume übernutzen, hierzulande die Kulturlandschaft vergiften, in den Tropen Wälder vernichten und weltweit die Ozeane plündern, dann wird selbst eine fortschreitende menschengemachte Klimaveränderung nicht mehr viel zur ökologischen Apokalypse beitragen. Die Artenkrise wird dies längst erledigt haben. Wir können uns beides nicht leisten. Auch im Angesicht der Klimakrise darf der Schutz der Lebensräume und der Natur nicht aus dem Blick geraten.
Überbevölkerung, das verdrängte Thema
Ein Thema, vor dem wir nach wie vor weitgehend die Augen verschließen, ist die Überbevölkerung. Bevor die Wachstumskurve zum Ende des Jahrhunderts hin allmählich abflacht, werden es in den unmittelbar vor uns liegenden Jahrzehnten sicher sehr viel mehr Menschen werden. Diese Jahrzehnte aber werden die entscheidenden sein.
Mittlerweile leben beinahe acht Milliarden Menschen auf der Erde. Nach den jüngsten Prognosen der Vereinten Nationen kommen bis Mitte des Jahrhunderts weitere zwei Milliarden und bis Ende des Jahrhunderts knapp drei Milliarden Menschen hinzu. Bereits jetzt verbrauchen wir aber alle im Übermaß Ressourcen und Raum. Schon jetzt zerstören wir für unsere Ernährung die wichtigsten Schatzkammern der Artenvielfalt.
Und es werden nicht einfach nur immer mehr Menschen, die mehr Landwirtschaft betreiben und mehr Flächen dafür verbrauchen. Viele von ihnen wollen auch eine Lebensweise, wie wir sie in den westlichen Industrienationen vorleben. Damit werden wir die natürlichen Lebensräume noch weiter überstrapazieren, selbst wenn wir modernste Agrartechnologien und molekulargenetische Innovationen einsetzen.
Vom Ende der Evolution, wie wir sie kennen
Um weitere drei Milliarden Menschen zu ernähren, werden wir noch mehr Natur opfern. Mit unserer Art der Landnutzung und Landwirtschaft werden wir bei noch mehr Menschen in die Zwickmühle geraten, noch mehr Nahrung auf noch mehr Fläche zu erwirtschaften. Daher werden Überbevölkerung und Ressourcenknappheit die Biodiversitätskrise noch verschärfen.
Tatsächlich können wir alle etwas gegen das Artensterben tun: durch bewussteren Umgang mit der Natur und nachhaltigere Lebensweise. Wir wissen, dass wir vor allem in den reichen Ländern des Nordens viel zu verschwenderisch mit Ressourcen umgehen. Aber auch die aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer werden gefordert sein. Es geht dabei vor allem darum, wie wir unsere Wiesen, Wälder, unsere Flüsse und Weltmeere nutzen.
Und für den Einzelnen geht es konkret darum, wie wir etwa unsere Gärten und Städte gestalten, wie viele Ressourcen wir verbrauchen. Derzeit ist das alles andere als nachhaltig. Was wir deshalb brauchen, ist ein grundlegend anderes Verständnis von – und Verhältnis zur – Natur, von der wir viel mehr unter Schutz stellen müssen.
Statt der derzeit 15 Prozent an Land und sieben Prozent im Meer sollten zukünftig wenigstens 30 Prozent der Erde geschützt werden, um dort die Artenvielfalt zu bewahren. Besser wäre es sogar,
die Hälfte der Erde unter Schutz zu stellen und „grün“ zu lassen.
Der Mensch verschwindet im Anthropozän
Die nächsten Jahrzehnte werden darüber entscheiden, ob wir Millionen Arten vor dem Untergang retten können. Was wir derzeit betreiben, ist ein Angriff der Gegenwart auf Zukunft und Vergangenheit: Es wäre das Ende der Evolution, wie wir sie zumindest seit dem letzten großen Artensterben kennen. Das Leben wird zwar immer weitergehen. Sehr wahrscheinlich aber wird es dies dann ohne uns tun.
Das Buch „Das Ende der Evolution – der Mensch und die Vernichtung der Arten“ von Matthias Glaubrecht können Sie auf Seite 15 oder direkt im Regenwald-Shop bestellen:
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